Diario di bicicletta

Auf der Suche nach dem inneren Murmeltier.

Ich habe vor etwa fünfzehn Jahren einen Bericht über die Westalpenüberquerung per Mountainbike gelesen. Der Gedanke, diese Reise auch unter die Räder zu nehmen, hat mich nie mehr losgelassen.

Jetzt stehe ich kurz davor.

Die riesige Vorfreude weicht langsam einem immer grösser werdenden Respekt.

Schaffe ich die rund 800 km und 

28'000 Höhenmeter?

Werde ich nach zwei Wochen meine glühenden Oberschenkel im Meer abkühlen können?

TAG 1

2. Juli 2019

Martigny - Courmayeur

In Martigny werde ich von Emotionen überwältigt. Jetzt ist der Moment da, auf den ich mich so lange gefreut habe. 
In la Fourly, nach 1500 hm Anstieg zeigt sich erstmals das Mont Blanc-Massiv. Es ist auch auf dieser Höhe noch heiss. Es läuft gut, ich bin frisch. Rund 500 hm später habe ich plötzlich keine Kraft mehr in den Beinen. An vielen Stellen, wo ich sonst hochkraxeln würde, steige ich ab. Ich schleiche völlig leer den Berg hoch. Von weit her sehe ich eine adrette Trailrunnerin entgegen kommen. Also steige ich wieder auf, ziehe den Bauch ein, versuche zu lächeln und kämpfe mich an ihr vorbei. Ich ernte von ihr ein "tu as de la courage". Wenn ich gelaufen wäre, hätte sie womöglich "bonne chance" gesagt und ich hätte meine Tour abgebrochen und wäre nach Hause gefahren. Hat sich gelohnt! Ich steige wieder ab und schleppe mich und mein Bike weiter den Berg hoch. Unerwartet muss ich Altschneefelder queren. Dieser Pass macht mich fertig. Da werde ich niemals Freude haben, wenn ich oben bin...
Ich bin oben. SO GEIL!
Rasant geht es durch das wunderschöne XXL-Tal nach Courmayeur. Fertig für heute. Fix und fertig.

TAG 2

3. JULI 2019

Courmayeur - Cormet d'Areches

Seit 4.00 Uhr liege ich wach. Ich kann wohl den neuen Tag kaum erwarten. 
Mit Schrecken habe ich festgestellt, dass ich mir auf meiner gestrigen Etappe nur 38 Minuten Pause gegönnt habe. Gegessen habe ich wohl auch zu wenig. Es besteht die Hoffnung, dass die gestrige Megakrise ein Hungerrast war. 
Tagesziel heute: Pausen machen und genug essen.
Beim Aufstieg durch das Val Veni ist der Mont Blanc zum Greifen nah. Gewaltige Bäche donnern ins Tal. Das Grollen des Geschiebes ist einem Donnern zum Verwechseln ähnlich. Die extrem vielen Touristen trüben die Idylle etwas. Es sind viele Japaner und Amerikaner, die in grossen Gruppen den Mont Blanc umwandern. Als Biker wird man angefeuert und es wird abgeklatscht.
Die Abfahrt vom Col de la Seigne nennt sich nicht umsonst einer der besten Downhills der Alpen. Das hat mich so beflügelt, dass ich weitere 1000 Höhenmeter zum Col du Coin in Angriff nehme. Das Schlussstūck dieses Passes ist so extrem steil, dass ich zum Teil auf allen Vieren mit dem Bike auf dem Rücken hochklettern muss. Ich komme mir vor wie ein Esel. Hinter dem Pass ist ein Stall mit einer Tränke. Es gibt auch Futter. Da lasse ich mich nieder. Heute kam der Hammermann nicht. Aber es war hammermässig.

Tag 3

4. JULI 2019

Cormet d'Areches - St. Michel de Maurienne

Ich starte auf 2100 m.ü.M. in einer unglaublich schönen Hochebene. Weil die Franzosen jeder auch nur so kleinen Geländeerhebung "Col du irgendwas" sagen, habe ich um 10.00 h bereits acht Pässe und 2000 hm Downhill hinter mir.

Dass ich jetzt die 2000 hm im nächsten Tal wieder hoch muss, ist nur mässig lustig. 

Ich vermisse die dummen Sprüche und die geniale Geselligkeit meiner Bikefreunde. Zur Erinnerung an sie verfolgt mich beim Aufstieg zum Übergang eine Herde Schafe. Die steilen Rampen fahre ich nicht hoch. Pjotr und Thomas würden locker fahren und dabei pfeifen. Bei mir pfeifen nur noch die Murmeltiere.

Die hohe Temperatur setzt mir zu. Zum Glück ziehen Wolken auf. Aber sie müssten ja nicht bedrohlich schwarz sein. Finde ich sympathisch, dass die Wolken sich in einem anderen Tal entladen. So erreiche ich trockenen Rades die nächste Passhöhe auf 2400 m.ü.M..

Auf grobem Schotter, Asphalt und wenigen Wanderwegen vernichte ich die gewonnene Höhe wieder. Mädu wäre enttäuscht, mir ist es inzwischen egal.

Ich bin so kaputt, dass ich im Hotel weder meine Telefonnummer noch meinen Namen sagen kann. Da hätte Werni mir bestimmt auch nicht helfen können.